Verkehrte Welt
Er hatte es befürchtet. Genau zwischen zwei Songs surrte sie herein, die zweite SMS, weshalb es mehr Gäste wahrnahmen als ihm lieb war. Für einen kurzen, unheilvollen Moment flackerte das silbergraue Smartphone zwischen zwei zur Hälfte geleerten Tellern Spaghetti auf, heller als die weißen Kerzen auf den Stehtischen ringsum und entlang des Tresens in der um diese Zeit bereits schummernden Caffè-Bar.
Mehrere Tischnachbarn, die einen aufgerichtet, andere auf caramelfarbenen Barhockern klebend, kommentierten die Störung mit oberlehrerhaften Blicken in seine Richtung. Nachdem sich das Gerät beruhigt hatte, zog Maurice Zott es vorsichtig unter seinem Teller hervor.
Mittwochabends war das Centrale gut gefüllt. Ralph, emsiger Barkeeper mit irgendwie asiatischem Einschlag, belieferte seine Kundschaft bis 22.45 Uhr mit Pizza und Pasta, wobei man sich fragte, wo genau sich der stets unsichtbare Koch – gab es ihn überhaupt? – wohl verbergen mochte in diesem zwar hohen, aber engen Gemäuer. Bis Knoblauchduftschwaden das mutmaßliche Versteck der konspirativen Feuerstelle verrieten. Waren dann alle satt, konzentrierte man sich im Centrale auf Cappuccino, Prosecco und sizilianischen Nero d´Avola. Das heißt, in Wahrheit hielt die strapazierte Kaffeemaschine aus Chrom nie bis zur Sperrstunde durch. Spätestens um Mitternacht wurde sie poliert und abgeschaltet. Wie viele Pappen weniger hätten Verkehrspolizisten einkassiert, würden Ralph und seine studentischen Aushilfen einen nicht pünktlich zur Geisterstunde zwingen, von Koffein auf Alkohol umzusatteln! Derweil draußen vor der Kneipentüre die eigene Karre wartete, meist im Halteverbot, die Doblerstraße hinauf zum Österberg mit seinen mehr oder minder prächtigen Villen. Aber wozu sich überhaupt noch selbst hinters Steuerrad setzen im autophoben Tübingen, wie es der schwäbischen Universitätsstadt mit ihrem ehrgeizigen grünen Oberbürgermeister zunehmend nachgesagt wurde?
Wenigstens Ralph sah ihm die SMS nach. Ahnungsvoll nickte er Maurice quer durch den Gastraum zu. Kaum dreißigjährig, würde der flinke Kellner ihm zeitlebens dankbar sein. Dankbar dafür, dass man den Kommissar prompt zu fassen bekam, egal wie spät oder früh am Tag, wenn wirklich Not am Mann war.
Zotts Zeigefinger fand zur Taste LESEN. Die neue Nachricht erschien. Das nächste Menetekel. Max Bauser am anderen Tischende erhob sich. Er schob seinen Teller etwas beiseite, beugte sich vor, musste den aufgerufenen Text kopfüber lesen. Aber auch er begriff sofort.
(wird fortgesetzt)